Mix Tapes... Vol. Thirteen: Come To Your Senses

Leicht verspätete Geburtstags-/ Osterüberrschung für A.,
vielleicht aber auch demnächst in deiner Post. Download auf Anfrage nur
...

The city’s hard, the city’s fair empfiehlt aus irgendeinem Grund
Lesbian Vampire Killers, auch weil wir Trash lieben.


Come To Your Senses
(Downloadlinks und das Cover in schön gibt's auf Anfrage...)
A
Text: Dylan Thomas, Da wir nur Menschen sind
01 Elephant Parade: Grand Opening
02 Glasvegas: Whatever Hurts You Through The Night
03 Dum Dum Girls: There Is A Light That Never Goes Out (The Smiths)
04 The Leisure Society: Come To Your Senses
05 Caitlin Rose: Things Change
06 Rainald Grebe Und Das Orchester Der Versöhnung: Oben
07 The 5, 6, 7, 8’s featuring Jack White On Guitar: Great Balls Of Fire (Jerry Lee Lewis)
08 The Mamas & The Papas: My Girl (The Temptations)
09 The New York Dolls: Trash
Text: Sarah Kirsch, Die Luft riecht schon nach Schnee
10 The Kills: Baby Says
11 Buddy Holly: Maybe Baby


B
01 The Strange Boys: You Can’t Only Love When You Want To
02 The White Stripes: Blue Orchid (live)
03 Pulp: Do You Remember The First Time? (live)
04 Russian Red: Girls Just Want To Have Fun (Cyndi Lauper)
05 Girls: Thee Oh So Protective One
06 Ja, Panik: Nevermore
07 Laura Marling: Blues Run The Game (Jackson C. Frank)
Text: Deleted Scene from The Boat That Rocked (Rhys Ifans speaking)

08 The Wave Pictures: I Love You Like A Madman
09 The Sonics: Psycho
10 The Raveonettes: Forget That You’re Young
11 Orange Juice: L.O.V.E. Love
12 The Notes: Happy Birthday
13 The Vaccines: Nørgaard
14 Karen O and The Kids: All Is Love
15 James Carr: That’s What I Want To Know.

 
 

Feigenrot...

Fehlschluss des Spielers oder Wir schneiden uns die Pulsadern auf, und wundern uns über das Feigenrot auf den Fließen.

»Da steht’n Auto auf der A 9
Abfahrt/ Richtung Großkugel [...]«
hyperventiliert es aus der Box
und verbrämt sind mir beinah
die Freuden des so frühen
Aufstehens: Wieder alles so schön
deutsch hier denke ich und fort
während ich die Radiostimme Ja,
was? Wer sind Sie denn? Peter?
Lustig! klickerklackerklackklack
abschalte. Aber dem ist wohl
nicht leicht beizukommen
dieses Kleinbürgerlich-Denunziatorische
das hier so sonor tönt es sitzt tief
in diesem noch besseren Land.
Und so melden die die früher vielleicht
ihren Nachbarn verraten hätten
auf dem Amt den nächsten Stau und dass
es glatt ist wo Schnee fällt und wieder
verweht. Nicht mit Genauigkeit das Präzise
im Blick sondern nur fortschreibend
jene banale Auflistung des Allzu-
Offensichtlichen der Mängel
ebenjener Wirklichkeit an der
man sich reibt. Und da das Hier
und Jetzt dem nicht genügt
schweift man ab in die Ferne.
Protokoll-archiviert mit
derselben Akribie das mangelhafte
Inventar ebenjenes Dritte-Welt-Lands
in das zuletzt man pauschal-
gereist ist. Notiert wird ebenso das
aufdringliche Fehlverhalten der Verkäufer
am Strand und das Elend der verwilderten
Hunde während der Schimmel im Bad
seiner finalen Dokumentation
auf hochauflösenden Fotos harrt.
Es existieren ganze Portale im
Netz denen es amtssprachliche
Konditionierung vorausgesetzt
mit demselben Langmut sich widmen lässt
wie es das Land der Dichter und Denker
in seinen Formularen Anträgen und
Bescheiden verlangt. Indes: und auch
wenn nicht mehr gedacht wird so
immerhin nicht minder gedichtet:
ohne Leidenschaft zwar für harte
Fügungen; dafür dauergereimt
wird unlängst abgelegten Liebhabern
gedacht. Oder vielmehr der Umstand
lautstark deklamiert als ein solcher
abgelegt worden zu sein.
Subsummiert unter eine
lange Liste von Enttäuschungen
findet sich die Größte
gar von allen statt nur
eine weitere unter
anderen.
Statt sich zu wundern dass
man selbst noch immer fähig
zu lieben ist verkrampft man
sich in gefühlsduseligen Lamenti
vielmehr auf die eine Forderung:
geliebt zu werden. Was nicht
einforderbar ist denn sind
wir ehrlich wir sind nicht frei
zu lieben.
Die pure Unwahrscheinlichkeit -
da Eine zu treffen die sich da auch
die eine behaarte Stelle am Kopf kratzt
eine behaarte unter wenigen anderen
in dem das intelligente Design
der Nacktheit des geschaffenen
Affen spottet. Sie gleicht der im Roulette:
Sie gleicht jenem Spieler der glorreichen
Unvernunft jener Raserei mit der der
immer wieder denkt: »Jetzt!«

Ja, jetzt.
So liebte, so liebe ich dahin.

 
 

Mix Tapes... Vol. Twelve: Every Season Has An End

Hola, kurze Rundpost an alle,
die ich mag, und die wiederum Musik mögen... ein verspätetes Osterpräsent.


Für Freunde des Blogs als Download (allein), für den großen Rest leider nur wieder als Inspiration
...

The city’s hard, the city’s fair empfiehlt Skins weiter, und liebt die irre Cassie.


Every Season Has An End
(Die Downloadlinks und das Cover in schön gibt's auf Anfrage...)
A
01 The Magnetic Fields - I Think I Need A New Heart
02 Kim Frank - Lara
03 Doris Troy - Whatcha Gonna Do About It
04 Girls - Substance
05 Bright Eyes - Lua
06 Buzzcocks - What Ever Happened To?
07 Holly Golightly
- There Is An End
08 Cuckamuck - Mein Hund und ich
09 Wanda Jackson - You Know That I’m No Good (Amy Winehouse)
10 Ja, Panik - Dmd Kiu Lidt
11 The Magnetic Fields - Love Is Like A Bottle Of Gin

B
01 The Felice Brothers - Whiskey In My Whiskey
02 The Vaccines - Wolf Pack (live)
03 Pixies - Debaser
04 Simone White - We Used To Stand So Tall
05 Sam Cooke - Trouble Blues
06 Owen - Girlfriend In A Coma (The Smiths)
07 The Zombies - I Remember When I Loved Her
08 Emmy The Great - Century Of Sleep
09 Graham Coxon - You & I
10 Miles Kane - A Girl Like You (Edwyn Collins)
11 New York Dolls - Looking For A Kiss
12 Russian Red - Kiss My Elbow
13 Alex Turner - Hiding Tonight
14 Françoise Hardy - Dann bist du verliebt.

 
 

Marianne Joan Elliott-Said a/k/a Poly Styrene ist tot



Poly Styrene
(*03. Juli 1957 25. April 2011)

 
 

Fahrtspuren...

gerbisdorf eins

der raps schießt gelb
die leute hängen bunte
eier in ihre heidnischen
vorgärten vater erklärt mir
die vorausfahrende landschaft
während sich das paroxetin
in meinen venen mit dem rausch
der letzten nacht vermengt
ich bin ein guter epikuräer
kein schmerz kein leid keine angst
wetteifere ich mit den göttern nur
die sonne versengt mir durch
die frontscheibe die haut
„eklig sehen die aus
als ich noch'n stift war
da hießen die noch truthünner
jetzt puter meine mutter
kam aus radefeld
ich sage
„ja und „stimmt und „hast du
sonst noch familie hier

während ich eines grabststeins
gewahr werde der jetzt schon
längst nicht mehr da ist willy
horst und neska n.
, mir auch
nie vorgestellt weil zu früh
verstorben darunter eingraviert
ein falsches geburtsdatum
geschuldet dem schlechten gedächtnis
der ältesten schwester „na den r.
nur noch
der uns ums feld gebracht
habe sonst sei alles wie ausgestorben
hier seltsam denke ich da ist
kein vogel der hier den himmel
durchschneidet und du sagst „ach
hier sagen sich doch auch die schweine
gute nacht.

 
 

Die Zu-spät-Gekommenen (Fingerübungen eins)


Die Zu-spät-Gekommenen
oder
Vager Mut und nasse Hosen: Deutschland im Herbst 2010ff

Eine Spätherbstnachlese

»Die Blätter aber, auf die das Vogelblut tropfte, färbten sich erst rot und regneten dann auch zu Boden. [...] Glaub mir, da war kein Winter! Es gab keinen. Ehrlich! Und wozu hat er uns das Eis da gelassen, [...] Was soll es? Dieser elende Dummkopf, er hat den ersten Vogel getötet, und da hat sich die Erde in Trauer gehüllt. Seit jener Zeit haben wir den Blätterfall, den feuchten Herbst, die stürmischen Winde, die das letzte Laub von den Ästen fegen. Und der Vogel ist scheu geworden, er fliegt vor uns weg, ist für immer gekränkt durch den Menschen. Siehst du, mein Lieber, so haben wir uns selber Schaden angetan. Und dabei dürften wir eigentlich nichts verletzen! Bewahren müßten wir alles, gut bewahren.«
(Konstantin Paustowski, Das Märchen vom Herbst, 1936.)

Es ist Herbst geworden in der Stadt. Unversehens lösen sich die Blätter im Wind, die Paare am Augustusplatz gehen Arm in Arm, während Einen das erste Frösteln im Oliv seiner Feldjacke erwischt. Eiligen Schritts quert er dieses Forum. Weil er ahnt, der erste Frost folgt ihm bereits auf dem Tritt. Und die ersten Lichtblitze durchziehen den Nachthimmel, entzünden sich an den Oberleitungen der Tram #7 oder 4: Und während diese sich beständig ihren Weg durch die Stadt bahnen – entlang des Augüstusplatz‘“, wie neuerdings eine offenbar mit der französischen Sprache aufgewachsene Frauenzunge das nicht touristische, immerhin recht frankophile, aber eben nicht mit dieser Sprache vertraute Ohr in diesen zu betören versucht –, ist es auf deinem parallel dazu verlaufenden Weg Johnny Cash, der sich an dein imaginäres Ohr im Kopf schmiegt: At my door the leaves are falling/ A cold wild wind has come/ Sweethearts walk by together/ And I […]? And I? Und ich? Während da draußen die öffentlichen Personennahverkehrsvehikel der LVB weiter durch die Nacht rattern, hat dein Weg, der dich in dein Arbeiterschließfach“ führen wird, indes sein Ziel erreicht und es bleiben, als du unwirsch die Tür hinter dir zuschlägst, nichts als die Scherben: Land in Sicht, […]/ Die lange Reise ist vorbei. geleitet dich Ralph Möbius‘ Stimme in den Schlaf. „[…] Morgenlicht weckt meine Seele auf/ Ich lebe wieder, und bin frei. Das ist Deutschland im Herbst, noch anderthalb Monate vor jenem 9. November, jenem Datum in der kürzer werdenden Tages- und länger werdenden Nachtzeit, das man immer im Hinterkopf und auf der Agenda haben muss. Überhaupt jene kalte Jahreszeit, die einen in einer stetig ausweitenden Zahl dunkler Stunden verharren lässt und geradezu dazu einlädt, es sich bequem zu machen, näher zu rücken, eine Suppe zu schlürfen, Gesellschaft und das verbliebene Licht zu teilen: Allein, hierzulande setzt sie nur allzu oft das Blut in Wallungen…

http://www.youtube.com/watch?v=CZXix25HMhQ


October, fast-forwarded. Zum Leipziger „Volk“ spricht der Bundestagspräsident, was befremdlich wirkt, auch wenn sich dieses die hiesige Gazette vor den Namen geschrieben hat und die, um die es an diesem Samstagabend im Oktober eigentlich gehen soll, einstmals skandierten: „Wir sind das Volk.“ Und, später erst: „Wir sind ein Volk.“ Norbert Lammert (CDU) schmeichelt der ernannten „Heldenstadt“, der 09. Oktober sei ein besseres Datum für den „Tag der Deutschen Einheit“. Da er es aber nicht ist, und auch ein Denkmal für die Einheit (bis auf die Verlegenheitslösung einer am Tage eiligst enthüllten Stele) in weite Nähe, das heißt, in die Bundeshauptstadt Berlin rücken wird, schmeichelt sich auch die Stadt selbst: Wie im vergangenen Jahr veranstaltet sie die einer Stadt in Frankreich (d. i. die „Fête des lumières“ in Lyon) entlehnte Idee eine „Lichtfests“. Anders aber als im letzten Jahr, als rund um den Ring diverse Licht- und Videoinstallationen auf die anliegenden Gebäude geworfen wurden und etwa auch die frühere Leipziger Stasi-Zentrale, Schrägstrich, jetzt -Museum, im „Runden Eck“ geöffnet hatte und Passanten diese – eben die Straßenzüge, die das unmittelbare Zentrum der Stadt einkreisen – ablaufen konnten, leistet sich Leipzig in diesem Jahr nur eine „Lightversion“ dieses Fests, das zur Tradition werden soll.
„Spektakulär“ wird es oben genannte Zeitung, die nicht zuletzt Mitausrichter ist, am nachfolgenden Montag nennen, was diesmal auf dem Augustusplatz locken soll. Allein, die Familie, der nicht zuletzt die Bilder aus dem vergangenen Jahr aufgezeichnet vom MDR –dieses beständig um ein „Mitteldeutschland“, das sich selbst westlich von hier immer noch als ein doch sehr ostdeutsches anfühlt, buhlende Flaggschiff und darum ebenso beständig Gebühren verbrennende Leuchtfeuer am Firmament öffentlich-rechtlicher Nichtunterhaltung –, hier zu dieser Stelle Geleit gegeben haben, tritt betreten auf der Stelle: Es ist Lichtfest, und wir stehen im Dunkeln. Inmitten eines Publikums, das ein nur allzu grober Seitenblick schnell als „Wendeverlierer“ ausmachen würde. Die aber trotzdem allesamt froh scheinen, dass „alles“ nun vorbei sei. Nun gut, ein paar sogenannte Ewiggestrige gibt es auch hier: Die Einen haben das Relief des ollen Marx von der Universität entfernt und der Front von deren neuer Aula das Aussehen der vom Spitzbart einst gesprengten Paulinerkirche (d. i. die Universitätskirche „St. Pauli“) wiedergegeben; die Anderen versorgen die davor fröstelnde, nunmehr fröhlich konsumierende Masse nun mit kommunistischen Pamphleten. Ein stetes Geben und Nehmen. Dazwischen formen Kerzen auf dem Platz, der, wie das Blatt vom Montag ganz recht in einer Bildunterschrift für die nicht mehr ganz DDR-(Af)firmen aufklärt, einst ebenfalls Karl Heinrich Marx‘ Namen trug, eine ‘89. Die wir aber nicht sehen. Dafür aber das Gesicht eines nicht namentlich benannten, doch merklich neuwohlstandsgenährten Sängers, der, begleitet von den drei anderen Hochbühnen, schreit, es sei „Zeit, […]“, und zwar, „[…] etwas zu ändern.“ Spontan fällt Einem dazu der nicht ganz im Takt schlagende Drummer auf der Bühne hinter uns ein. Oder eher auf. Oder eine Lektion in besserem Songwriting, die aber auch so ziemlich jede deutschsprachige Veröffentlichung, die sich in den, na, sagen wir, letzten zwanzig Jahren in den oberen Rängen sogenannter Verkaufscharts wiedergefunden hat, in Revision nehmen oder umgehend wieder einstampfen lassen würde: Ein guter Song, und das ist ein simpler Fakt, besteht eben nicht nur aus einer mantraartigen Aneinanderreihung von Refrain. Insofern drängt sich Einem bei der Endlosschleife von „Es ist Zeit, etwas zu ändern.“ noch vor anderen, fraglos ungemein nützlichen Dingen wie Weltfrieden, besserem Wetter, niedrigeren Wurstpreisen oder endlich einem Ende der Weihnachtswichtelei mit Menschen, die man ohnehin nicht abkann; vor allem der Wunsch auf, das Stück möge nun enden. Oder zumindest dieses „Etwas“, welches sich nachfolgend zwar mit einer Penetranz eines Ohrwurms festzusetzen droht, aber mit Konsequenz unbesetzt bleibt, einmal näher zu benennen. Allein, es bleibt ein tautologisches Sprechen, ein Platzhalter für Alles und Nichts.
Apropos: Auftritt Burkhard Jung (SPD), der seine auf Großleinwand projizierte Rede dazu nutzt, nun doch Stellung zu beziehen, gegen die vier in der darauf folgenden Woche anberaumten Aufmärsche neonationalsozialistischer Gesinnung. Zuvor, so meldete das ansässige Lokalradio der Universität, war der Oberbürgermeister der Stadt Leipzig zu keinem Kommentar zu bewegen. Auch die Anfrage eines Sitzbündnisses, das die aufmarschierenden braunen Massen hindern wollte, sei unbeantwortet geblieben. Auch ein Aussitzen gegen Rechts, nur eben nicht im wortwörtlichen Sinne.
Dann darf doch noch ein Zeitzeuge jenes 9. Oktobers 1989 sprechen: einem Montagabend, an dem sich trotz massiver Drohungen des SED-Regimes 70.000 Menschen auf dem Innenstadtring versammelten, um – auch vorbei am Sitz der Bezirksverwaltung der Staatssicherheit im „Runden Eck“ – friedlich zu demonstrieren. Kurze Dank-, Demuts- und Demokratiebekundungen, bevor ein Mädchen, das, als die Leute sich auf den Innenstadtring versammeln, gerade mal vier Jahre ist, aufzählen darf, was alles falsch lief, als sie natürlich noch nichts davon wusste. Dass sie, diese Zu-spät-Gekommene, vermutlich auch noch als Teil jener ostdeutschen Minderheit gebrandmarkt wird sein, deren Gründungsmythos sie da gerade betreibt, sie vermutlich als Frau sowieso weniger, als Frau aus dem Osten noch weniger Lohn und Rente beziehen wird, ahnt sie indes nicht. Erinnert ein bisschen an das erfahrene „Leid“ einer Vertriebenenchefin, die noch nicht zwei war, als sie „vertrieben“ wurde; an eine Bundeskanzlerin, die es als Pfarrerstochter zu FDJ- und Blockflötenehren gebracht, jetzt aber froh sei, nicht „festzusitzen“ in diesem anderen deutschen Staat, der ihr doch den Start erst ermöglichte; oder an einen Bundespräsidenten, dem es schwer falle, einer 16Jährigen, nämlich seiner eigenen Tochter, zu erklären, wie das so gewesen sei, damals, mit zwei deutschen Staaten: Schiefe, nichtssagende Geschichtsbilder, die nichts gemein haben mit geronnener Erfahrung, mit den Leuten, die aufgestanden waren, um – Achtung, oh, all ihr Bundespräsidententöchter! – jenen anderen deutschen Staat zunächst erst einmal zu reformieren, bevor der Dicke ihn mit Westvaluta und rosig aufblühenden Versprechen aufkaufte, die Treuhand treuhänderisch die volkseigene Wirtschaft verschacherte, wo sie nicht gleich zerschlagen wurde, und auch hier gezahlte Solidaritätszuschläge rückwirkend in die Hände westlicher Investoren zurückflossen, im Steuersystem versickerten oder gleich aus diesem ins steuerflüchtige Ausland verlagert wurden. Das ist Geschichte, „heldenhaft“ daran nichts, und es ist vielleicht nur Zufall, dass der Osten zuerst zusammenbrach, die UdSSR schon zu sehr in eigene Reformbestrebungen verstrickt war, „um in die Menge mal richtig hineinzuschlagen“, wie ein linientreuerer Genosse einmal zu meinem Vater bemerkte.

Unwürdig ist die Veranstaltung, die nun mit einer müden Lasershow, die auch von jeder Großraumdiskothek der landläufigen Provinz und näheren Umgebung in den Schatten gestellt werden könnte, versucht, daran zu erinnern. Zumal jeweils ein Organist in der Nikolaikirche, in der der Präsident des Deutschen Bundestages zuvor seine „Rede zur Demokratie“ gehalten hat, und, zugeschaltet, einer im Berliner Reichstagsgebäude mal mit, mal gegeneinander etwas, na, sagen wir, „Angemessenes“ auf ihren Instrumenten versuchen zu improvisieren. Gemessen an der gefühlten Zeit, die das von Technogewumme aufgeheizte Geklimper andauert, muss es sich um ein wirklich schweres Andenken handeln. Ein solches haben wir nicht, ein spöttisches Lächeln wiegt sich auf den Lippen meines Vaters, kurz davor loszuprusten, wie ich übrigens selbst. Einer dieser seltenen Momente des Einklangs, bei aller Differenz, wie wir oft ja gegensätzlich zueinander denken, hier im gleichen Widerspruch zur Zeit. „In eine goldene Zukunft geboren“, überdies im selben Jahr wie die Präsidentin des Bundes der Vertriebenen (BdV), Erika Steinbach, hat er Aufbruch und Zerfall des Experiments eines sozialistischen deutschen Staates miterlebt. Der ihn ebenso und ohnedies gekostet hat: das Haus und die Schmiede seines Vaters durch den Braunkohletagebau in der Planwirtschaft, wie auch der Umstieg in und der Wert(e)verfall durch die Markwirtschaft danach. Während ich doch nur gewonnen habe: eine „Kindheit in Trümmern“, die mit zu den aufregendsten Zeiten meines Lebens gehört, meine Bücherverlorenheit, meinen Geist, der doch auch nur ein seiner Endlichkeit entgegen rasendes Gehirn ist, ach ja, einen kleinen Hang zu Materialismus, Atheismus, meinen moralischen Skeptizismus bis hin zu einer gewissen Skrupellosigkeit, ich nenne es Radikalität, aber auch die Angst, die stete Angst, das Getriebensein, das Deprimierte, das Selten-Manische, die wild-welt-weit flirrenden Gedanken, aber auch meine immerzu wild-weit-reichende Phantasie und die Liebe zur belebten wie unbelebten, immerhin menschenleereren Natur – eben jene, nun ja, nach neuestem Attest, Ansätze einer eben schizoid-gestörten Persönlichkeitsentfaltung. Man kommt aus dem Lachen gar nicht mehr heraus, hephaistisch gellt das unsere nun schon durch Jahrhunderte – wie das des Alten, das des Hinkenden. Heiß das Eisen, Donnerschläge und, noch bevor es verglüht, Lichtblitze, funkelnd-tanzende Sterne.
Letztes Jahr ist der alte Birnbaum umgefallen. Einfach so. Und nun weiß keiner in der Familie mehr so genau, wo die Mauser, Walther oder was immer der alte Willy, „nur im Landsturm, obwohl grad‘ mal ein krummer Finger“, dein Vater, mein mir nicht bekannt gewordener Großvater, da darunter verbuddelt hat, als die Russen kamen, liegt. – Manchmal, ja, manchmal höre ich es noch immer: das Flüstern der Weiden hinter unserem backsteingelben Haus, erinnere den Kirschbaum daneben, das von einer Ameisenkolonne umhegte Smaragdgrün der Blattläuse darauf, während meine Schwester meine Höhenangst auf der daran befestigten Schaukel auf die Probe stellt: „Nicht zu hoch! Nicht so hoch!“ und die Nichtschwäne aber auch so gar nicht damit hadern, dass sie nur Enten sind, oder damals, im Winter, als das Huhn schon ein wenig damit haderte, dass du es gerade enthauptet hattest, mit der Axt auf dem Baumstumpf und frostkalten Fingern, denen es entglitt und empört losen Kopfes und verspritzenden Bluts den Hof querte, oder, wieder im kalten Frühling, unter den Weidenkätzchen oder, später dann, unter Forsythienblüten der Rat des Nordwinds, wie er sich zu uns, zu mir und dem Hund, gesellt (der, den sie uns, noch später dann, wieder kurz vor Schluss – des Dorfes, des Tagebaus, der DDR –, mal eben aus dem Zwinger weg geklaut haben) unten bei der alten weisen, alles überragend und -dauernden Trauerweide am Teich, bei der ich oft saß und die mir von einer Zukunft sprach, die es so nie gegeben hat…

Es ist einfach zu sagen, zu einfach, auch aus der zeitlichen Distanz, die mich heute von meinem Vater trennt, aber stände ich vor der Wahl, einen sozialistischen Staat zu reformieren oder ihn durch ein Vielparteiengeklüngel zu ersetzen, in dem dann eine Partei, die eine christliche „Leitkultur“ predigt, mit einer Besserverdienendenpartei seliger-ist-nehmen-denn-geben koaliert, ich würde es – bei allen Differenzen – vermutlich auch mit den diesseitsverhafteteren Kommunisten halten: Die einen warten ja nur auf den „keinen Ort, nirgends“ (C. Wolf) einer eben immer nur allzu fernen Zukunft, nicht auf ein in jenseitiger Ewigkeit erstrahlendes Nichts und den Weltuntergang. Vermutlich hätte ich – in derselben Situation – auch nicht mitdemonstriert, gar davor noch das Innere einer Kirche für eine Friedensandacht heimgesucht, zu Wochenbeginn, montagabends, nach dem Tagwerk, der Hände harter Arbeit, die Frau und die Kinder zu Haus, dem einzig verbliebenen in unserer Straße, im verschwindenden Dorf, das nach und nach der heranrückenden Braunkohletagebaugrube wich; schon gar nicht den Weg auf die Straße gesucht, eh bereits bekannt, berüchtigt und vorstellig geworden bei den entsprechenden Behörden und Stellen, wenn nicht durch die in der eigenen Familie mit Kontakt, Meldepflicht zur Staatssicherheit und/ oder von Rang in der Nationalen Volksarmee, ganz recht, die „Überroten“, die „Gungs“, deine Neffen, oder mein Onkel, der Korvettenkapitän; wenn nicht durch jene, hast ja deine Akte nie angefordert, dann spätestens seit jenem August Neunzehnhunderteinundsechzig, auf dem Rückweg von der Ostsee, „komm, mit der S-Bahn noch nach Berlin, meine Tante Olga besuchen“, Pustekuchen, rausgewunken haben sie euch, die Papiere konfisziert, die vorläufigen Scheine explizit „nicht gültig Berlin“, kein Weg rein, keiner daran vorbei, mit der Schwalbe zu zweit nicht auf die Autobahn gedurft, montags danach auf’s Amt zitiert, zum Rapport, verhört worden, am Ende selbst noch geglaubt, du wolltest abhauen; oder dann der Warnschuss, das war schon Ende der 80er, kurz vor Schluss, als ein übereifriger Plakatierer gegen Staat und Umsiedlung wegen der Braunkohle den Verdacht gleich auf dich fallen ließ, und dich ein wohlgesonnenerer Genosse „gerade noch vor dem Knast bewahren“ konnte, nur weil du für dein Recht eingestanden bist, das es ja gab, ja, das wird jetzt wieder vergessen, auch in jenem „Unrechtsstaat“, wie er fürderhin genannt und mit dem Nationalsozialismus gleichgesetzt werden wird, obgleich dieser doch erklärt ein „antifaschistischer“ war. Es gab ein Recht und auch die Möglichkeit, sich zu arrangieren ohne den Opportunismus jener „Wendehälse“ und gesamtdeutscher „Volksvertreter“ von Beruf, aber ohne wirkliche Berufung, denen versammelt man nun seinen „Alkibiades I“, das „Manifest“ oder zumindest die Thesen „ad Feuerbach“ um die Ohren zimmern wollte. Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst eines sich wieder selbst entmündigenden Geistes, einer trägen, blökend-bigotten Herdenmoral, die sich eingenistet hat, in ihrem Irrglauben an ein „Wachstum“, das doch auch nicht allen eine Chance lässt, schon gar nicht die Möglichkeit zu einem bloßen Andersdenken. Oder, wieder anders formuliert, wer heute noch sofort und wirklich moralisch empört aufschreit, nur weil da einer wieder wagt, allein das Wort „Kommunismus“ in den Mund zu nehmen, der hat nichts begriffen. Der hat nicht begriffen, dass es selbst dort, wo sich der „Sprung in den Kommunismus“ per Dekret selbst verordnet worden war, dies nur eine Anmaßung war, eine Gelegenheit, sich selbst Lügen zu strafen – am Prüfstein der Wirklichkeit und tatsächlichen Verhältnisse. De facto hat es nie auch nur einen kommunistischen Staat gegeben, nur jene realsozialistische Misere in der Nachfolge von ernannten Marxepigonen.

Was ihm aber fehlt, unserem Allzu-moralisch-Entrüsteten, ist das Rüstzeug, das wiederum der gute alte Marx bietet, seine eigene Utopie, die des Westens, die des „Pursuit of Happiness“ oder das politisch-ökonomische System eines sich liberal gebenden Kapitalismus zu hinterfragen. Man muss doch gar nicht das zyklische Geschichtsbild eines historischen Materialismus teilen, der aus heutiger Sicht eben ein in doppelter Hinsicht „historisch“ gewordener ist und eben einer Zeit entstammt, die in der aufkeimenden Frühindustrialisierung noch an einen zwangläufigen Fortschritt bis hin an das klassenlose gute Ende der Geschichte glauben lassen konnte – an einen Fortschrittsglauben, der sich spätestens mit Buchenwald über Goethes Weimar und der nach ihm benannten Republik selbst ad absurdum geführt und schlicht erledigt hat. „Edel sei der Mensch,/ hilfreich und gut!“ ist eben nur ein Anspruch, dem er, der Mensch, nur zu selten genügen mag. Nichtdestotrotz ändert das nichts an der Kritik, der Analyse der Marktmechanismen, deren zyklische Krisen etwa bei Überproduktion oder Sättigung des Marktes, die Entfremdung von oder durch Arbeit, die Neigung des Kapitals zur Akkumulation und Konsequenzen, die eine sinnvolle Sozialpolitik, dem entgegensteuern, zu ziehen hätte, die Marx noch immer bietet. Oder, und das Geringste, was ein so einfacher Satz wie die elfte Feuerbachthese, niedergeschrieben Achtzehnfünfundvierzig in Brüssel, dem Hier und Jetzt vorauszuhaben scheint, der Sprengstoff, der in ihm immer noch virulent ist – er scheut keineswegs davor, dass nicht auch die Möglichkeit einer Veränderung der Verhältnisse bestehen soll. Welche Scheuklappen hat man uns, haben wir uns selbst angelegt? Wann ist uns der Glaube daran – dass doch alles immer wieder auch ganz anders sein könnte – abhanden gekommen? Stattdessen sind wir heute dazu angehalten, hinter dem „globalen Markt“ ein sich selbst überlassenes, sich selbst regulierendes System zu sehen, das rational schwer einsehbar sei und schon gar nicht zu hinterfragen. Die „Bankenkrise“, die zuletzt dies blinde Vertrauen erschütterte, ist Beleg dieser Bankrotterklärung, dieses freiwilligen Verzichtes auf Vernunft: Statt die Namen von Verantwortlichen ausfindig zu machen, was in einer weithin vernetzten, ohnedies digital überdokumentierten Welt eigentlich kein Problem darstellen dürfte; statt einige Wenige und deren bloßes Jonglieren von Zahlen auf dem Papier ad infinitum, was jenseits davon eben keinen realen Werten mehr entsprechen konnte, für ihr kurzsichtiges, ja blindes Streben nach Profit zur Verantwortung zu ziehen, spannt man „den Banken“ bequem einen gigantischen Rettungsschirm für den Fall eines Neuanfalls – von Verschwendungssucht und Gier. Auch weil es allzu bequem ist: das medial aufbereitete Leid der Anderen ein wegklickbares ist – per Fernbedienung, Mausklick, via Touchscreen. Was kümmert’s mich, wenn durch die Spekulation mit Lebensmittelpreisen andernorts ein Existenzminimum unerschwinglich wird? Solange es hier noch ein Stück vom Kuchen, pardon, noch Arbeitsplätze gibt, ist alles im Lot. Und solange eine Partei, eine Regierung die Arbeitslosenzahlen, mit welch fragwürdigen Mitteln auch immer zu senken vermag, arbeitet sie richtig, hat sie Recht. Diese Partei, die Partei, die Partei hat immer…

Statt dem Menschen zu dienen, hat, was einmal Handel und Austausch war, sich verselbständigt, galoppiert wie eine Krommyonische Wildsau durch die Früchte erbrachter Arbeit und terrorisiert all jene, die sich und ihre Arbeitskraft auf dem „globalen Markt“ nicht unter den niedrigsten und widrigsten Konditionen feilbieten können oder wollen. „Fangt die Bestie! Domestiziert sie! Macht sie euch wieder Untertan!“, stattdessen betretene Blicke, beugen sich alle dem wütenden Haupt des Ungeheuers, neue Feldfrüchte werden schon nachwachsen. „Wachstum“ und „Wettbewerb“ als Götzen- und Frondienst an ein politisch-ökonomisches System, dass doch der Arbeitsteilung, der Kooperation, dem Nutzen aller dienen sollte. Statt diesen mantraartig abgespulten Ws nachzueilen – wie eine abgehetzte Meute von Hunden während einer Parforcejagd auf ein verwundetes wildes Schwein – warum halten wir nicht einen Moment inne, schöpfen Atem und hinterfragen diese Ws? Stellen W-Fragen wie „Wollen wir wirklich so leben?“, „Wie sinnvoll ist ein solch blindes Streben nach ‹Wachstum›, diese Theorie, noch unter Nachhaltigkeitsaspekten und angesichts doch offenbar immer noch begrenzten natürlichen Ressourcen?“ oder „Wie absurd ist es, mit Milliarden von Chinesen oder Indern konkurrieren zu wollen, für die bereits eine geringe Erhebung des Lebensstandards, Lohn und Brot für Generationen wären?“ „Würden Sie noch bei KoK kaufen, wenn sie wüssten, dass, um den Ärmsten der der Armen, der hierzulande so genannten „Unterschicht“, ihre Trans’fair‘leistungen aus der Tasche zu ziehen, im weit ärmeren und billigeren Bangladesch in den Händen kleiner, flinker Näherinnen und trotz unzähliger unbezahlter Überstunden nicht einmal genügend Lohn landet, um deren monatliches Auskommen ebenda zu sichern? Würden Sie? Würden Sie?“
Dabei ist es einfach nicht richtig, dass Angebot und Nachfrage per se immer vernünftige Strukturen gebiert, blickt man etwa auf ein Geflecht verschiedenster Krankenkassen, deren „Wettbewerb“ alles andere gebiert, um kranke Patienten möglichst kostengünstig mit der bestmöglichen Versorgung zu versehen, sondern die alle Nutznießer sein wollen – von möglichst gesunden Kunden und deren Angst, krank zu werden. Oder der Großmut der immerzu forschenden Pharmaunternehmen, in der Werbung verkörpert durch vor die Kamera gezogene Krüppel, der uns zwar noch immer kein Mittel gegen Krebs oder zumindest bezahlbare antiretrovirale Medikamente gegen AIDS in der, auch nach dem Zusammenbruch des Ostblocks, immer noch so genannten Dritten Welt beschert hat, dafür wunderblaue Pillen für reiche alte Säcke, um selbige wiederauferstehen zu lassen. Halleluja!
„Aufklärung ist...“ et weiter wie gewohnt. Zitieren Sie selbst. Das ist das Mindeste. Habet Mut, euch eures eigenen Verstandes zu bedienen! Oder Nietzsche! War es Nietzsche nicht, der dem Menschen, jenem räsonierenden Tier, einen (sic!) Menschendienst erwies und ihm aufzeigte, dass er als solches eben ein „nicht festgestelltes Tier“ ist? Geradezu „verurteilt“ frei zu sein, „ohne Aufschub“, steter „Entwurf“, wie bei Sartre. Stattdessen wähnt man sich benommen wie in einem winterspäten Sommernachtstraum, in dem die Herrschaft der Menschen an ihren Herbst angelangt ist, und die kleingeistigen Zwerge den großen Lenz witternd bereits an die Erdoberfläche drängen:

„[…] Nach dem Untergang der Menschen/ Kommt die Herrschaft an die Zwerge,// An die winzig klugen Leutchen,/ die im Schoß der Berge hausen,/ In des Reichtums goldenen Schachten,/ Emsig klaubend, emsig sammelnd.// Wie sie lauern aus den Löchern,/ […] Und mir graute vor der Zukunft!// Vor der Geldmacht dieser Knirpse! […]“ (Atta Troll, Caput XII)

Nun denn, nichtsdestotrotz oder trotzdessen: „Arrangiert“, wohlgemerkt vorerst und irgend, hat „man“ sich dann auch mit der „Neuen Zeit“, weil man auch hier wieder musste, immer unter Vorbehalt: Zuvor noch unpässlich und nicht zugelassen für den hiesigen Gemeinderat, wie im Falle meines Vaters, nun eben in diesem gesessen, in der Tat „mehr Demokratie gewagt“ und nur allzu oft kopfschüttelnd aus den Sitzungen zurückgekehrt. „Gegenstimmen?“ „Keine.“



Ebensolche erhoben sich zuletzt im Südwesten der wiedervereinten Berliner Republik. Unangemessen die Vergleiche zu den Montagsdemonstranten, wie überdies die zu den anfänglichen, und wirklich kläglichen, Protesten zu Hartz IV, auch hier: Spielten jene mit nichts Geringerem als ihrem Leben, um demokratische Veränderungen in ihrem Land herbeizuführen, proben diese nur den Aufstand. Ein Hauch von 68er-Gaga-Revolte liegt wieder in der Luft: Bürgerkinder riskieren aufgeplatzte Lippen. Nur das aufgekratzte, wild distinguierte Umherwedeln mit den Mao-Bibeln fehlt. Und die Jungs in Grün tun ihnen schließlich den Gefallen, das heißt, ihre Dienstpflicht, und die Bilder, sie ähneln sich wieder wie im allneujährlich wiederholten Guido-Knopp-Gedächtnis-Marathon „100 Jahre – Der Countdown“: „Three, Two, One […]“, die Gischt der Wasserwerfer spritzt nur so auf und der Mann, der hier juvenileren Alters ist, wird von den Beinen geblasen. Nur ein Trenchcoat fehlt. Und die darin vergrabenen Hände. Während jenseits des Rheins mal wieder die Revolution ausbricht, ist es hierzulande nur ein uncharismatischer und volksferner Landesfürst, Schrägstrich Vertreter eben jenes Souveräns, den er mit seiner eigenen Exekutive und deren Gummiknüppel vertraut macht. Das skandierte „Oben bleiben!“ Natürlich! Nur eben nicht im wortwörtlichen Sinne, sondern parteiamtsitzlich uminterpretiert.

NB. Die nachfolgende Passage ist ein Werk der Phantasie, der niederen Eingebung, das heißt, eines sich selbst überlassenen Möglichkeitssinns und hat darum aber auch gar nichts mit hier noch lebenden oder gerad‘ verschiedenen Personen und deren Wirken und Werk zu tun; zwar ließen sich gewisse Bezüge zu dem, was wir die Wirklichkeit nennen, nicht gänzlich tilgen, jedoch sind diese Ähnlichkeiten rein zufällig und nicht beabsichtigt und nehmen geradezu grotesk-alptraumhafte Züge an, wenn gar gemutmaßt wird, der wohl schlechteste deutsche Regisseur würde mit einem Leichtgewicht von Boxer allen Ernstes Filme drehen wollen. Es ist nicht intendiert, tatsächlich lebenden oder abgelebten Personen Schaden zuzufügen, ebenso Tieren unnötige Schmerzen zuzufügen, weshalb auch nur von der Zucht dafür vorgesehene Nutztiere verzehrt wurden.
Gewidmet posthum B. E., ohne den der deutsche Film ein anderer wär‘ und ohne den ich nicht wüsste, was ein „schwarzer Teppich“ ist. Chapeau!

Fehlt eigentlich nur noch die Radikalisierung aus der bürgerlichen Mitte heraus hin zur vermeintlichen Revolution durch eine sich in Freiburg im Breisgau von der Ortsgruppe des NABU („Naturschutzbund Bund Deutschland e. V.“) absplitternde, militante Zelle: Die „Konterfraktion Rote Liste“ (KFRL), die damit droht, den von ihr bei Augsburg unter Kontrolle gebrachten Intercity-Express 611 von Dortmund nach München, nach Lummerland oder zumindest Landshut zu entführen, sollten nicht sofort auch wirklich alle (!) von der Abholzung betroffenen Juchtenkäfer und -käferlarven, die in den an das Bahngelände angrenzenden Parkanlagen bereits schon umstellt, das heißt, in ihren Brutbäumen bzw. -höhlen eingeschlossen sind, nicht umgehend freigelassen, das heißt, dem sicheren Tod durch den Winter preisgegeben werden. Und freilich ließe dann auch die filmische Aufarbeitung des Ganzen nicht lange auf sich warten, in „Der Baden Mappus Komplex“, nimmt sich der erfolgsverwöhnte Filmproduzent Berndt Aichanger, der sich zum Ziel gesetzt hat, die jüngere und jüngste deutsche Geschichte auf Zelluloid zu bannen, der beklemmenden Situationsverschärfung und letztendlichen Eskalation um den Stuttgarter Hauptbahnhof an.
Wer, wenn nicht dieser Visionär des deutschsprachigen Blockbusterkinos, der Anspruch mit unterhaltender Massentauglichkeit in spielerischer Leichtigkeit miteinander zu vereinen mag, wer, wenn nicht er, sollte sich dieser Bürde stellen? Er, ohne den wir nicht um das menschliche Antlitz des Führers wüssten, ja, nicht einmal, dass Adolf Hitler ein Mensch war, oder dass die hässliche Fratze des Terrorismus des Deutschen Herbstes ’77, dieses ersten Deutschen Herbstes, wie man dann sagen muss, auch die milden Züge des hübschen Gesichts und das unbestrittene schauspielerische Können einer Sascha Maria Larah annehmen kann. Oder die düstere Zukunftsvision „Resident Niebl“, in der Aichanger uns in die Landesgegenwart von Morgen führt, und in der eine adrette, aber doch zunehmend desillusionierte Friedensaktivistin, es mit dem vereinten Stumpfsinn der Bundesvorstände von CDU/ CSU und Die Liberalen aufnimmt. Ein Terrain, dem der Erfolgsproduzent auch in „The Fantastic One“ treu geblieben ist, der jedoch – klar als Tendenzstück und Auftragsarbeit aus neoliberalistischen Kreisen identifizierbar – durch die Kritik geschmäht wurde: In diesem ist es der elastische Körper von „Mr. Fantastic“ – der deutsche Sozialstaat so die, zugegeben, etwas platte Metapher –, der zu bersten droht ob des Ansturms, der von ihm umklammerten – das gesellschaftliche Band – Sozialschmarotzer, die zusammenhalten er gerade noch kann.
Unterstützt wird Aichangers Ansinnen der filmischen Aufarbeitung einer Gegenwart, die jetzt noch Zukunft ist, dabei durch das Erfolgsduo des Neuen Deutschen Autorenfilms: Owe Bull und der vormalige Halbschwergewichtschampion Hendrik „Gentlemanboxer“ Måske, die – es ist geradezu ein Traum – zueinander gefunden hatten, als Måske unter Bulls Regie – es muss ein Traum sein! –, einen Boxer spielen durfte. Also nicht anders vor einer Kamera agierte als in seiner gesamten Karriere davor und sich, diese so Revue passieren lassend, auf seine wahre Profession als Charakterdarsteller besonnen hatte. Bisherige „Frucht“ dieser Liaison von acteur und réalisateur war bisher noch „Mutters Courage“: Ein Film, in dem Bull seine Vorliebe für eine Ästhetik des Trash geschickt mit einer unterschwelligen Gegenwartskritik verknüpft und in beklemmend subversiven Bildern Aufstieg und Fall der ersten Frau im Bundeskanzleramt dokumentiert. Leider war dieser zweiten Zusammenarbeit von Bull und Måske kein größeres Publikum beschieden, da sie nach teilweise vernichtender Kritik nie den Weg in die ganz großen Kinosäle fand. Nur noch der etwas reißerische Untertitel „Sie kam aus dem Osten, Deutschland zu dienen, und landete unter Kannibalisten-Masochisten“ ist auf den inzwischen zerfledderten Plakaten, deren Reste ein Haus hier in der Straße noch zieren, geradeso zu entziffern. Oh, halt, nein, verlesen, „karnevalistischen“ steht da eigentlich; über Måskes Konterfei, das mit krud gezogenem Lippenstift und den heruntergezogenen Mundwinkeln tatsächlich ein wenig, wenn auch stark überzeichnet, dem der Kanzlerin ähnlich sieht. Auch gerade noch zu erkennen: die abgesägte Schrotflinte, die diese in der rechten Hand hält, währenddessen sie mit der anderen so etwas wie das abgetrennte Haupt des als Zombie zurückgekehrten Altkanzlers – zum Leben wiedererwecktes Sitzfleisch – leicht von ihrem sehnigen Körper abspreizt. Darunter ein Schriftzug wie mit Blut geschrieben (oder eher dorthin gespritzt): „Ist doch alles nur Spa“. Der Rest der Reklame ist bereits abgerissen.

Kam aus dem Osten, um Owe Bull als Schauspieler zu dienen: Hendrik Måske
(hier in einer Drehpause, bereits mit Maske und Makeup-Effekten ausstaffiert)

An diesem Film wohl zu Recht gerügt wurde u. a., er entlehne seine krude Bildsprache eines „Kopfkinos“ zu sehr dem Film „Bronson“ des Dänen Nicolas Winding Refn aus dem Jahre 2009, der das Leben des „gefährlichsten britischen Häftlings“ und Faustkämpfers Charles „Charlie“ Bronson nachzeichnet. Was fraglos so ist, und Måske zudem die Möglichkeit gibt, besonders physisch zu brillieren. Etwa, wenn er sich in seiner Rolle – fast bis auf die Haut ausgemergelt – am Wolfgangsee ein wildes Weißwurstwettessen mit dem Altkanzler um den Parteivorsitz liefert. Andererseits fällt in Måskes sich so auf die Physis reduzierendem Spiel insbesondere auf, dass er, bei der Adaption des charakteristischen Merkelschen Singsangs etwa, gerade in den Szenen, wo diese „das Wachstum“ ad infinitum beschwört, zu wenig überzeichnet wirkt, zu weit hinter der Realität zurückbleibt, um dieses, wie offenkund beabsichtigt, auch ad absurdum zu führen.
Weithin leichter inszeniert und daher auch von einem breiteren Publikum angenommen war unterdes „Hotte in Weimar“, die Bull-Adaption „Der Leiden des jungen Werthers“ von Johann Wolfgang von und zu Gu–oethe: eine anrührende Liebesgeschichte zwischen dem Protagonisten, hinter dem sich unverkennbar der junge Gregor Gysi verbirgt, der zu dem jungen Stall- und Wagenknecht „Hotte“ (Hendrik Måske hier in einer Nebenrolle besetzt, während, um den Altersunterschied zu wahren, der frühere „Tatort“-Kommissar Pjotr Sodenn in der Hauptrolle den „jungen“ Werther mimt) in Leidenschaft entbrennt, der ihn aber aus nur allzu heiratspolitischen Kalkül und zugunsten eines großkapitalistischen Bürgersohns (Oskar Lafontaine, gespielt von dem ehemaligen Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung Norbert Blam) verlässt. Neben der Repression durch die (von Bull so adaptierte, historisch eben nicht ganz korrekte) revolutionsumwirrte frühbürgerliche Gesellschaft und dem misslingenden Versuch einer Selbstdisziplinierung sind es, anders als in Goethes Vorlage, die als historische Folie dient, auch hier Altlasten, die den jungen „Gysi“ zu Fall bringen: So wie sich seine Partei erst durch den bloßen Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik (und eben keine Neugründung eines gänzlich neuen gesamtdeutschen Staates) auf die Hinterbänke und -ränke verbannt sah, was sich quasi wiederholt, als die immer wieder so genannte „SED-Nachfolgepartei“ PDS, die eigentlich eine „Partei des Demokratischen Sozialismus“ sein wollte, mit der WASG („Arbeit & soziale Gerechtigkeit – Die Wahlalternative“) fusioniert, mit der dadurch eine gesamtdeutsche Die Linke entstehen soll, die auch nachfolgend mit ihrem realsozialistischen Erbe noch hadert und werden wird. Ebenso wird auch Werther/ „Gysi“ hier auf die Hinterbank von Lotte Ulbr–, ähm, des Staatsrats–, nein, des Karrens des voransitzenden Wagenknechts „Hotte“ verbannt, und geht zuletzt elend in der Ödnis brandenburgischer Auenwälder ein, als er aufgrund des Schweigegelübdes (das er sich in der parallel zur berühmten Pistolenszene angelegten Schlussepisode selbst auferlegt hat) nicht um Hilfe bitten kann, als ein Schlagloch ihn samt einiger Gepäckstücke hintenüber vom Wagen fallen lässt. Allerdings verlässt sich Bull in dieser fast zur Satire grenzenden Kolportage allzu sehr auf das komödiantische Talent seiner beiden Hauptdarsteller Sodenn und Blam, die zuvor bereits mit einem gemeinsamen Kabarettprogramm reüssierten.
Bleibt abzuwarten, ob Bull auch in „Der Baden Mappus Komplex“ auf dieses bewährte Erfolgsrezept zurückgreifen kann oder ob die Aufarbeitung um die Eskalation des Deutschen Herbstes 2010ff, wie es auch der bisherige Stil des neu hinzugewonnenen Filmproduzenten Berndt Aichanger, der auch Co-Autor des Drehbuchs ist, vermuten lässt, einen Stil der härteren, realistischeren Gangart erfordert. Während eine erneute Besetzung des früheren Halbschwergewichts- und Neudarstellers Hendrik Måske als sicher gilt, ist eine Verpflichtung etwa des ehemaligen Bundesministers Norbert Blam trotz dessen Sprecherkompetenz der unterschiedlichsten regionalen Idiome doch eher unwahrscheinlich. Auch als noch unbestätigt erwiesen sich Gerüchte um Kurzauftritte von Harald Schmidt und Herbert Feuerstein als Juchtenkäfer bzw. Juchtenkäferlarve, die in „Waldorf-und-Statler-“Manier das bundesrepublikanische Geschehen bissig kommentieren sollten. Statt eines Altherrenensembles wird jedoch nun vermutet, dass „Der Baden Mappus Komplex“ auf noch unbekannte Jungstars setzen wird, was Cameo- oder Nebenrollenauftritte der gediegen-altgedienten Bull-Crew ja nicht ausschließt. Es bleibt also abzuwarten, wer der „Stimme der Revolution“, dem bis dahin flüchtigen und am 21. Mai 2011 während einer Polizeikontrolle erschossenen Max Beydermann, letztlich die seine leihen wird: „Hallo, isch bin der Baad’ner, ja, weisscht, und mo müsse doch mal sachen dörfe, […]“ sagt die wie auf den zur Fahndung veröffentlichen Telefonmitschnitten dann vermutlich auch in „Der Baden Mappus Komplex“, diese „Stimme“ der Revolution. Und Sascha Maria Larah verleiht ihr ein hübsches Gesicht.
Nur kommt diese dann allzu spät. Schließlich ist „Stuttgart 21“, im Rahmen der Neuordnung des Eisenbahnknotens Stuttgart den hiesigen Kopfbahnhof durch einen unterirdischen Durchgangsbahnhof zu ersetzen, ein Projekt, das lang geplant ist und – so unsinnig und kostenintensiv es auch sein mag – bereits diverse demokratisch legitimierte Hürden genommen hat. Vermutlich lagen die kommunalen Baupläne ganz öffentlich aus, gab es öffentliche Sitzungen; allein, Widerstand regt sich erst, wenn dem unsinnigen Planen dann Taten folgen sollen – die Bagger angerückt sind, der Abriss droht, Realitäten geschaffen werden. Erst dann wähnt man sich „politisch“, soll die res publica nicht mehr nur einer berufspolitischen Kaste vorbehalten, und der beigetretene Neudemokrat aus dem Osten muss sich fragen, warum denn erst dann? Warum erst, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist und Aas, Verwesung und Kadaver schon zum Himmel stinken? Warum erst dann der Ruf nach vermuteten oder vermeintlichen Brunnenvergiftern?

Fast-forwarding. Und kurz wieder zurückgespult. Die schlicht „November“ betitelte EP der Band Azure Ray einlegend betrachtet Einer ungerührt die Nachrichtenbilder auf dem nebenherlaufenden, auf stumm geschalteten Fernsehbildschirm: Das Wendland brennt. Die unkritische Masse ist erreicht. An den Schienen liefert sie sich ein wildes Katz-und-Maus-Spiel um einen Spezialbehälter zur Lagerung und zum Transport hochradioaktiver Stoffe. Greenpeace, vor Ort, kommentiert eifrig und live auf Facebook und Twitter – ein Geschehen, dessen Ausgang schon von vornherein feststeht, festgestanden hat und fürderhin haben wird.
Ein absurdes Geschehen also, das erst dann enden wird, wenn zukünftig ein Endlager für den radioaktiven Abfall deutscher Herkunft gefunden sein und dieser Standort dann auch nicht wie das Atommüll-Zwischenlager „Gorleben“ heißen oder es ersteren eben gar nicht mehr geben wird. Was aber nun dauern könnte, da die eben durch die Lobby beschlossene Laufzeitverlängerung deutscher Kernkraftwerke gerade erst durch den Deutschen Bundestag abgesegnet wurde. Bis dahin das absurde pseudopolitische „Event“, ein nunmehr generationsübergreifendes „Happening“, unter freiem Himmel und frischer Luft ausgefochtener, familienfreundlich auf das Wochenende gelegter allzu „ziviler Ungehorsam“. „Why does she sing her sad songs for me I’m not the one/ [..?] Maybe she just has to sing for the sake of the song. […]“ Protest um des Protests willen. Der die Anti-Atomkraft-Bewegung in den Augen der schweigenden, weil gerade auch stumm auf den Bildschirm starrenden Mehrheit diskreditieren wird. Da diese den betriebenen Aufwand nicht gern in Zahlen aufsummiert sieht, zumal, wenn ihr dabei durch die emotional-aufgeladene Präsentation der Heuchelei und, was der Privatsender RTL Television sonst noch „Nachrichten“ nennt, gar noch Mitleid mitsuggeriert wird, für die Jungs, pardon, Beamten in Grün mit vermutlich natürlich jedweder gewährter Sonntags-, Feiertags- und Gefahrenzulage. Im Gegenzug natürlich die Gefährdung, die von unbewaffneten, irgend immer versonnen dreinblickenden und, weil sich politisch korrekt ernährenden, irgend immer ausgezehrt aussehenden Langhaarträgern ausgeht. Ja, ein Klischee. Leider ein zuweilen gelebtes.

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Man wiegt gegeneinander ab, das Mitleid aber, hält sich am Ende milde in Grenzen. „[…]/ Who do I think that I am to decide that she’s wrong?“



Unter Glasdachnacht. Nachtrag vom Vordersitz eines Peugeot 207 oder die Townes-van-Zandt-versus-Bob-Dylan-Diskussion. Als sich 2007 der Tod Townes van Zandts nunmehr zum zehnten Mal jährte, da erschien in kaum einem deutschen Musikmagazin ein Nachruf angesichts der Dekade, seitdem dieser in Fort Worth, Texas, geborene Singer-Songwriter für immer verstummt war. Keine Titelstory, kein 16-Seiten-Special, nicht eine kleine Retrospektive seines Werks. Dafür erschien im darauffolgenden Jahr für den hiesigen Markt mit „Be Here to Love Me: A Film About Townes Van Zandt“ ein Dokumentarfilm der texanischen Filmemacherin Margaret Brown in einer Fassung, die zudem auch eine deutschsprachige Untertitelung bot. Neben zum Teil nie davor veröffentlichten Archivaufnahmen zeigt der bereits 2004 entstandene Film auch Interviewmitschnitte mit Townes van Zandt selbst, seiner Familie, aber auch Zeit- und Weggenossen aus dem Musikgeschäft wie Willie Nelson, Kris Kristofferson, Emmylou Harris, Lyle Lovett, Steve Earle oder Guy Clark. Während einigen Townes-van-Zandt-Stücken von den Genannten – in natürlich jeweils „ureigenen“ Coverversionen – zu Weltruhm verholfen worden war, sollte dies eben nicht zu einem ebenso hohen Bekanntheitsgrad des Mannes führen, der diese verfasst hatte. Bezeichnenderweise ohne großen Groll oder Widerspruch desselben. So fiel Townes van Zandts Antwort auf das immer wieder in diesem Zusammenhang angeführte Zitat von Steve Earle (d. i. „Townes Van Zandt is the best songwriter in the whole world and I’ll stand on Bob Dylan‘s coffee table in my cowboy boots and say that.“), das auch der Film von Brown nun überliefert, denkbar knapp, wenn auch nicht ohne ein lakonisches Augenzwinkern aus: „I’ve met Bob Dylan and his bodyguards, and I don’t think Steve [Earle] could get anywhere near his coffee table.“ Natürlich ist das nur eine Anekdote, der Film auch ein erschütterndes Dokument eines viel zu frühen Todes – ein „Gig“, so eine andere, für den, gemeint ist die Beerdigungsfeier, so erzählt Guy Clark da, er bereits 30 Jahre zuvor gebucht worden sei –, einer manisch-depressiven Erkrankung mitsamt fragwürdiger psychiatrischer Behandlungsmethoden gegen diese, ausgelöschter Kindheitserinnerungen, aber auch ein Dokument einer fortgesetzten Drogen- und Alkoholabhängigkeit. Und den, gerade in ihrer aufrichtigen Einfachheit einen immer wieder unwillkürlich ergreifenden Stücken van Zandts auf dem dazu gehörigen Soundtrack, zu denen man dann Bilder eines hageren Mannes sieht, in dem man – mit seinem halblangen Haar, das meist ein Stetson ziert – ein trauriges, nur früheres Pendant Conor Obersts zu erkennen glaubt, der mit seinen Bright Eyes als Kern des um das Independent-Label Saddle Creek in Omaha, Nebraska, angesiedelte Bandkollektiv gilt, dem auch oben erwähnte Azure Ray angehören. Während Letzterer kurzzeitig gar als „Spokesman of his Generation“ gehandelt wurde – im Rahmen seiner „Vote for Change“-Tour, welche ihn 2004 mit so prominenten Mitstreitern wie Bruce Springsteen oder R.E.M. auf eine Bühne führte, um die mögliche Wiederwahl George W. Bushs jr. als US-Präsident vielleicht doch noch zu vereiteln –, kennen gerade einmal ein paar der Generation Townes van Zandts diesen selbst oder seine Songs.

Dabei ergeht es Bob Dylan nicht viel anders! Gut, er brach sich vielleicht nicht den Hals, wie Julie Burchill ihren wütenden „Nachruf auf den Rock and Roll“, der eigentlich eine Abrechnung mit dem Punk des Jahres 1977f ist (d. i. „The Boy Looked at Johnny. The Obituary of Rock and Roll“, 1978, dt. Übersetzung, Wien 1982. Ihr damaliger Co-Autor, Tony Parsons, widmete demselben Jahr, genauer der Nacht, in der Elvis starb, später einen ebenfalls sehr lesenswerten, weit versöhnlicheren Roman, der in deutscher Übertragung im Blumenbar Verlag vorliegt; Anm. des Verf.), eröffnet und damit auf einen Motorradunfall anspielt, der wieder eine andere Seite, eine weitere Schaffensphase in Bob Dylans Karriere einleitete, der des Zu-sich-zurück-Gekehrten, des Familienmenschen, die des religiös Bekehrten, des „Jokerman“, bis er in den 90er Jahren nach einem Album oder vielmehr einer Sammlung von düsteren bis obskuren Traditionals und Folk-Aufnahmen mit einer Reihe von Alterswerken wieder relevant für ein Publikum wurde, das dies zuvor abgeschreckt hatte. Wer Scarlett Johansson durch das grobkörnige Video zu „When the Deal Goes Down“ schlendern sah, weiß, dass der Dylan des Jahres 2006, genauso wieder auf der Höhe seiner Zeit war, wie Burchill und Parson es anno 1978 waren, als die Erstauflage ihres „Nachrufs“ erschien, der den gerade entfachten Punk, da dieser sich in irrsinniger Zeit – gewissermaßen die Geschichte des Rock’n’Roll im Kleinen und unter Rekordgeschwindigkeit zwangswiederholend – selbst verbrannte, schon wieder zu Grabe trug und daneben, aber das alles Randbemerkungen, eine Liebeserklärung an The Modern Lovers, die wohl schönste Paul-Weller-Schmähung und eine Komplettabsage an Woodstock und Hippietum enthielt. Was sich da ebenso längst selbst überlebt hatte, wie Rythm & Soul und Rock’n’Roll davor, wie der Punk jetzt oder Grunge später. Glam Rock? Nur noch das ironisch überzeichnete (oder unbewusst stumpfsinnige) Zitat längst abgelebter Rock’n’Roll-Klischees. Es ist eben alles andere als verwegen, in unifarbenen Spandexhosen auf eine Bühne zu treten, nur weil diese bestimmte Körperteile überproportional hervortreten lassen, Johnny Borrell! Es ist zutiefst albern. Und der Rest der The New Class of Rock, die seit 2001ff mal mit mehr, mal mit weniger profundem musikhistorischen Abschlussklassenwissen (oder besser Ballast) aus dem Klassenzimmer die NME-Titelseiten stürmt? Was kommt nach all den Retro-Rock’n’Roll-, Noise-, Punk-, Lo-Fi-Indie-Rock- bzw. New Wave-, No Wave- oder C86-Revivaln? Man darf gespannt sein. Dylan hat das vielleicht als Erster begriffen, die Kraft zur Erneuerung liegt in der konsequenten Veränderung, einhergehend mit einer gewissen Verweigerung einem Publikum gegenüber, um sich selbst interessant bleiben zu können – in einem Spiel von Masken, Identitäten, hinter denen die „wahre“ Persönlichkeit des Künstlers einfach nicht zu fassen ist. Auch für sich selbst nicht. Diskontinuität schafft Leben. Ein Mädchen namens Madonna Louise Veronica Ciccone hat dies Anfang der 1980er Jahre verinnerlicht, verkehrt und kommerziell fruchtbar gemacht. Nur spielte diese nurmehr mit wechselnden Images, um für ein Publikum interessant zu bleiben. Und jede Popprinzessin in ihrer Nachfolge hat dieses Rezept bisher befolgt: Neues Album, neues Image. Und plötzlich hat man in die Jahre gekommene Disneyprinzessinnen, die sich mit viel zu engem Schritt – das Spandexphänomen – bei „Wetten dass..?“ auf der Bühne räkeln, weil das vermutlich der Vorstellung Fünfzehnjähriger oder überfünfzigjähriger Pädophiler von Verruchtheit oder Laszivität entspricht. Diskontinuität schafft leichtverkäuflichen, leicht konsumierbaren Plastikpop und geradezu lächerliche Obszönität. Surrogate für ein Begehren, das keines, das ohne Inhalt ist. Surrogate für ein Leben, das nur noch pure Dauer ist, die es nach dem Vorgabenkatalog von Vorabendserien und Hochglanz-Lifestyle-Magazinen zu Körperkult, Partnerschaft, Karriere und Besitzstreben zu füllen gilt. Was vorhersehbar und in ödester Weise zu ziemlich, genau! – zu derselben Reihenfolge des immergleichen Haus-Baum-Kind-Nestbauschmutz‘ führt. Saubere Grundstücke, in bester Lage, allerorten in den öffentlichen Raum gestellt. „There is no sense in trying.“ Na, gut, ab und an vielleicht auch mal eine Scheidung – Frau bekommt Haus und Kind, der Mann baumelt oben unter‘m Dachbalken: man hatte sich dafür entschieden, ähnlich einem alten Fachwerkbau, auf eine Vertäfelung der Holzbalken zu verzichten. Oder Frau tötet Mann, als dieser sich mit einer Axt gewaltsam Zutritt zum Haus verschafft hat – mit einem präzise gesetzten Küchenmesserstich. Wenigstens ein Mal kein falsches Sentiment oder seichtes Geseiere, sondern echtes Gefühl, echte Emotionen! Lifestyle? Dylan lacht, ich lache, jeder Mensch von Verstand lacht, der weiß, dass zur Lebenskunst gehört, dass dieses auch mal aus dem Ruder schlägt, statt ein und dieselbe anhaltende und immergleiche Erfolgsgeschichte zu sein, die man nur stationenweise abzuklappern hat, angefangen von Geburt zu Schulzeit, Abitur, Wehrdienst, Studium, Diplom, Arbeit, Schlaf, Arbeit, Schlaf, Arbeit, Arbeit, Arbeit, Schlaf, Schlaf; dazwischen Hochzeit, Baum, Haus, Kind, bis hin zu Renteneintritt, Altersitz, beginnender Demenz, Exitus, d. h., wenn nicht Scheidung und ein vorzeitiger Exitus (s. o.) dazwischen kommen. Lifestyle? „[…] It’s alright, Ma, it’s plastic, and plastic only.“

Frag‘ doch mal so einen, also einen, der nicht grad‘ unbestritten zumindest „Blonde on Blonde“, „Bringing It All Back Home“, „Highway 61 Revisited“, „Time Out of Mind“ oder „Blood on the Tracks“ in einer Liste der besten Alben aller Zeiten gelten lassen würde, gleich neben „The Velvet Underground and Nico“, „Marquee Moon“, „Pet Sounds“, „Odessey and Oracle“, „My Generation“, „Exile on Main St.“, „The Modern Lovers“, „Horses“, „London Calling“, „White Blood Cells“, „Everyone Who Pretended to Like Me Is Gone“, „Is This It“ oder „Up the Bracket“. Oder der vortrefflich mit dir streitet, warum, verdammt noch mal, das olle „Sgt. Pepper“ in solch einer Liste aber auch nichts verloren hat, weil es, erstens, nicht einmal das beste Album der Fab Four ist, und, zweitens, wer mit 25 nur die Beatles und noch immer nicht die Stones für sich entdeckt hat, mag zwar ein Herz haben, das aber vermutlich noch nie arg über die Stränge geschlagen hat. ähm, … – „But you don’t really care for music, do you?“ Das sind Leute, die peripher hören können, während sie doch zu Fuß unter Kopfhörern in der Stadt – unter Menschen – oder in der Tram unterwegs sind, die Musik als Unterhaltungsmittel und Konsumgut schätzen, und nur als das; als Gute-Laune-Hintergrund in Einkaufspassagen, während des Shoppens, beim Friseur, in Fahrstühlen, Zahnarztpraxen, Daily Soaps, in pornographischen oder noch schlechteren Filmen; Leute, die ebenjene Platten, die sich in sogenannten Verkaufscharts wiederfinden, auch zu Hause haben, weil sie das schnöde Plaste, das vermutlich mehr wert ist, als die allein-selig-machende Botschaft in platten Metaphern und einem sich immer und immer dauerwiederholenden Refrain darauf, gekauft, dafür bezahlt haben; das sind die Leute, die vermutlich nicht eine Vinylplatte zuhause haben, und das, obwohl sie nicht einmal wüssten, dass diese anfälliger und klangtechnisch von minderer Qualität sind als Compact Discs, was ja ein guter Grund dafür wär‘, nein –; die vermutlich noch nie mit einem Zollamt verhandelt haben, um dann beinahe feierlich ihre frisch eigenimportierte, limitierte, daher durchnummerierte und somit ganz persönliche 12“-Vinyl-Kopie einer The Muslims-EP auf dem Postamt gegen Aufpreis in Empfang zu nehmen, deren ansonsten blankweißes Cover durch die Dienstwaffe eines echten New York City-Cops drei Mal durchlöchert wurde. Frag‘ so einen „ach-weißt-du-Komma-so-eigentlich-alles“-, das heißt, Formatradio-Hörer und begeisterten Käufer von Best-ofs und Compilations jedweder Couleur, mal nach nur zehn Albumtiteln, die ihm was bedeuten. Nicht einen aus dem Stand könnte er dir nennen. Und, nach Bob Dylan befragt, würde, was du zu hören bekommst, sich mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit auf einen der folgenden drei Titel reduzieren: „Mr. Tambourine Man“, „Blowin‘ in the Wind“ oder „The Times They Are A-Changin‘“. Bei Ersterem vielleicht noch mit dem aussagekräftigen Zusatz „aber in der anderen Version“, gemeint ist dann die von The Byrds, weil Dylan selbst „ja beinah unerträglich so näselt und quäkt.“ Der Mann, der wie Colin Escott in seinen Liner Notes zu den jüngst erschienenen „The Bootleg Series Vol. 9 – The Witmark Demos: 1962-1964“ ganz recht sinniert, der Anfang vom Ende, was als „Tin Pan Alley“ bekannt war, oder in Bobbys (ebd. zitierten) eigenen Worten: „Tin Pan Alley is gone, and I put an end to it.“, indem er einer der ersten Künstler war, der ein Album mit zehn oder zwölf Songs aufnehmen konnte, die nicht von zehn oder zwölf verschiedenen daran beteiligten Textern, Komponisten oder den diese vertretenen Verlagen stammten, sondern nur von ihm selbst, selbst eingespielt und selbst eingesungen. Nicht die erste Verweigerung Robert Zimmermans, der sich den Vornahmen seines Lieblingsdichters als Teil seines Pseudonyms entlieh, um akustischen Folk in Greenwich Village zu spielen, Tin Pan Alley nebenher mitbeerdigte, um dann – zum Teil zum Entsetzen seines bisherigen Publikums – auf allen vermeintlichen Purismus zu verzichten und sich elektrisch verstärkt auf seine Wurzeln zu besinnen – die im Rock’n’Roll und den Platten- und Radiosendungen seiner Kindheit und Adoleszenz liegen.
Es gibt genau drei Momente, die dies musikhistorisch insbesondere dokumentieren (Während es genau drei Compilations gibt, die der audiophile Mensch überhaupt sein Eigen nennen sollte: Erstens, irgendeine, die das Schaffen und Wirken von entweder des Labels Sarah oder der Mitarbeiter von Rough Trade Records dokumentieren, zweitens, „Take Me to the River – A Southern Soul Story 1961-1977“ und, sind wir schon mal bei Neunzehnsiebenundsiebzig, drittens, irgendeine der sehr vielen mal mehr, mal weniger gelungenen ‘77s-Punk-Compilations oder die der, vor dem eigentlichen „Punk“ spielenden gleichnamigen US-Psychedelica-Garagenband-Bewegung, die sich vorbildlich kompiliert in den „Nuggets“-Boxen wiederfinden lässt. Best-ofs hingegen braucht kein Mensch. Auch wenn „Part Time Punks“, das der Television Personalities, zumindest ein guter Einstieg in das Schaffen Dan Treacys und damit genau die einzig rühmliche Ausnahme ist. Aber zurück zu His Bobness…): Natürlich ist es, und zumindest das sollte bis hier hin offenkund sein, müßig zu streiten, wer der größere „Singer-Songwriter“ ist, wenn Dylan doch maßgeblich dazu beigetragen hat, dass wir diesen Begriff heute erst so nutzen, wie wir ihn nutzen. Andererseits, wer wollte auf ein Stück wie Townes van Zandts „Waitin‘ Around To Die“ verzichten, nur um des Titels des größeren Barden willen. Ganze Lebensphilosophien lassen sich darauf bauen, so die meine, nimmt man noch Albert Camus‘ „L‘Homme révolté“, je nach Stimmung ein bisschen Rioja, Gin oder Chardonnay, Jarvis Cockers „I’m A Man“ und die eine oder andere Prise Sokratismus, Epikureismus und ein gehörigen Schuss Skeptizismus als Ingredienz hinzu. Ändert aber auch alles nichts daran, wie fassungslos „I Want You“, ein Stück mit der leichtfüßigst-verspielten Melodie, die sich vorstellen lässt, Einen immer wieder zurücklässt, weil auf diese Melodie ein Text folgt, der Herzen bricht und den Atem stocken macht. Oder die Monotonie, mit der sich „Desolation Row“ als illusionsloser böser Zwilling zu Lou Reeds „Walk on the Wild Side“ gibt.
Ändert auch nichts daran, wie unantastbar Bob Dylan zumindest für einen kurzen Augenblick in dem, was wir darüberhinaus „Geschichte“ zu nennen pflegen, war, und was doch nicht mehr als das unvermittelte Aufeinandertreffen von zufällig zur selben Zeit, an diesem Ort genannt Erde existierenden Individuen, haarlose Affen, wie du und ich, die nur allzu oft nur allzu sterblich, allzu flüchtig sind, ist: „[…] one time he has been/ The champion of the world.“ Ein Fliegengewicht zwar, nicht ohne Eitelkeit und mit dem zwielichtigen Charme eines fröhlichen Spötters und, wenn auch brillanten, Diebs, aber wie grandios sind eigentlich die beiden Stellen, die dies cineastisch dokumentieren; zum einen, die in Martin Scorseses „No Direction Home“, in der offenbar wird, wie der junge Bobby Dylan nicht nur die Plattensammlungen anderer dezimierte, sondern auch seine „The House of the Rising Sun“-Adaption nun, ja, eher „geliehenen“ Ursprungs ist. Oder, zum anderen, wie eisig er u. a. Donovan, – ein Fliegenschiss im Vergleich! – der als britische Antwort auf ihn gehandelt wurde, und die versammelte britische Presse in D. A. Pennebakers „Dont Look Back“ abkanzelt und zum Narren hält. Dylan war on top und London, wo er war, das swingende Zentrum der Welt, kongenial, hier darf, hier muss man es sagen, ebenfalls auf Zelluloid verkörpert von Cate Blanchett in Todd Haynes filmischer Annäherung an Dylan aus dem Jahr 2007, jene Episode, in der androgyne Dylan/ Blanchett u. a. die Warhol-Muse Edie Sedgwick trifft – wie blass ist da die „Billy Quinn“-Vorstellung Hayden Christensens aus „Factory Girl“, der Edie Sedgwick-Biographie aus dem Jahr davor: „I’m Not There“ heißt Haynes Film, komplicenhaft, augenzwinkernd, mit einem Zitat seines eben nicht zu fassenden Protagonisten, den hintereinander sechs Schauspieler mimen, Blanchett den Bob Dylan des Jahres 1965, der, wie dieser selbst bei D. A. Pennebaker, kurz davor steht, die akustische Gitarre gegen eine elektrische einzutauschen – ohne „Dont Look Back“ zurück zu schauen. Exakt das ist dann der Moment –

Dokumentiert ist dieser ebenfalls, und zwar auf „The ‚Royal Albert Hall‘ Concert“, was in Anführungszeichen steht, da diese Aufnahme, die lange Zeit als Bootleg kursierte, am 17. Mai 1966 eigentlich nicht in dieser, sondern in der Free Trade Hall in Manchester (und eben nicht in London) aufgenommen wurde. Erst später erlebte sie als „The Bootleg Series Vol. 4 – Bob Dylan Live 1966“ eine offizielle Veröffentlichung. „Judas!“, ruft da ungehalten jemand aus dem Publikum dem jungen Mann auf der Bühne zu, der sich gerade anschickt, zusammen mit der elektrisch verstärkten Band, die ihm seit dem zweiten, nach einem rein akustisch absolvierten Teil des Konzerts beisteht, den letzten Song des Abends zu bestreiten. Im darauf folgenden kurzem Applaus geht ein weiterer solcher Zwischenrufe fast unter: „I‘m never listening to you again, ever!“ Dylan, dem dies gilt, antwortet eisig „I don‘t believe you […]“, um ihn nach kurzer Pause zu verhöhnen: „[…] you‘re a liar!“ und sich der Band zuwendet mit einem „Play it fucking loud!“ Was diese dann auch tut; kaskadenartig überströmen die ersten Takte von der Bühne weg das Auditorium: Wenn man sie hört, weiß man den frechen Rufer bereits Lügen gestraft. „Like A Rolling Stone“, das Stück das vielleicht wie kein anderes Glanz und Elend, Grandezza und sinnentleerte Not eines Lebensstils feiert und verwirft, der sich vorwiegend von den Träumen wohlstandsverwöhnter Jugendlicher finanziert, indem er das Schicksal einer jungen Ausreißerin aus gutem Hause verhöhnt. Ähnlich, vielleicht noch desillusionierter, hat dies später Pulps Jarvis Cocker in „Common People“ für die Neunzehnhundertneunziger dann re-formuliert: Pop, der sich nicht zufrieden gibt, als selbstreferenzielles Geseiere der Unterhaltung einer Populärkultur herzuhalten, indem er jedwede Vorstellung von damit verknüpfter Romantik (wie bei Dylan) oder der Sinnhaftigkeit dieses Tuns (wie bei Cocker) zertrümmert und somit auf ein anderes, das wahre, zuweilen eben ziemlich triste, wie brutale Leben darüber hinaus verweist. Das Clevere ist natürlich, sich hierfür gerade dieses Mediums ebenselbst zu bedienen. Entgegen des wütenden Verdikts von Burchill und Parsons, die Dylan in ihrem „Nachruf auf den Rock and Roll“ noch den Genickbruch wünschten, einen sang- und wenig klanglosen Abgang auf einem zweirädrigen Vehikel, wie auch das Verdikt der Zwischen- und Schmachrufe allzu puristischer Folkanhänger hat Dylan nichts von sich, seinem subversiven wie klugen Denken verraten, als er sich dem Rock’n’Roll zuwandte und zur elektrischen Gitarre griff.
Im Gegenteil, statt plakativ gegen ein System anzusingen, dessen Teil man doch (auch) ist, von dem man ohne Frage auch profitiert, es eben von innen heraus zu kritisieren. Das trifft im Übrigen auch mit der von Burchill & Co formulierten Absage an die Kultur der US-amerikanischen Hippies 1967ff in „The Boy Looked at Johnny“: Es ist eben, zugegeben, recht einfach, zu einfach, sich die Haare lang wachsen zu lassen, sich Blumen, Bienen und „bewusstseinserweiternden“ Stoffen hinzugeben, wenn man weiß ist, sich einer Oberen-Mittelklasse-Schicht zugehörig weiß und sich somit nicht dem finanziellen Druck ausgesetzt sieht, einem Einberufungsbefehl Folge leisten zu müssen, um sich für ein System, das eine weiße Mittelklasse privilegiert, in einem Stellvertreterkrieg, etwa in Vietnam, verheizen zu lassen und stattdessen – natürlich! – gegen einen solchen ist (freilich mit dem angenehmen Nebeneffekt, sich selbst dem Risiko, die dieser militärische Dienst für einen selbst bergen würde, zu entziehen) und stattdessen gönnerhaft (und stellvertretend für eine ebenda verheizte Jugend von vorwiegend unterprivilegierten Schwarzen, Latinos und des White Trash) auf Großkundgebungen „Power to the People!“ zu skandieren.
Eine Antwort darauf, liefert immer noch Patti Smith, bei der sich Burchill und Parsons nebenher auch, aus einem anderen Song, den Titel ihres Buches geliehen hatten. Sie ist simpel und schmerzhaft, was schon zeigt, dass sie noch immer sehr wahr sein muss: „People Have the Power“.

„Lebt Bob Dylan eigentlich noch?“ Ich stocke kurz, noch immer hingerissen, die gerade von den Nachrichten unterbrochenen Live-„Like A Rolling Stone“-Kaskaden branden uns aus dem kleinen Compact Disc-Player, der zur Standardausstattung des französischen Kleinwagens gehört, wieder munter entgegen. Etwas irritiert, entnervt, ob des gerade noch mich von außen rechts überkommenen Spotts meines Gegenübers – wir, das heißt, ich nutze die Gelegenheit, bei der Rückkehr von der nächstbesten Videothek nach langer Zeit ernsthaft und verbissen Einparken zu üben.
Ich beiße ins Lenkrad, und es schmeckt nach „Aussteigen. Jetzt!“ Was mein mitfahrendes zweites Paar Augen, deren Führerschein aus mir nicht ganz bekannten Gründen zwar nicht mehr vorhanden ist, doch merklich amüsiert. Zumal ich gerade eine Runde um den kompletten Block genommen habe, um „auf die richtige Seite“ zum Einparken, seitwärts rechts, zu gelangen. Statt geschickt an der nächsten Kreuzung mit einem Rückstoß-, Vorwärtsmanöver zu wenden… Gelind, es lässt sich sagen, ich blicke also beinahe etwas pikiert zu meinem Beifahrer herüber. Was er nicht weiß, auf dem Fahrersitz neben ihm, sitzt neben einem eben nicht sonderlich passionierten, weil drei Mal durch die Fahrprüfung gerasselten Einparktalent (Lappalien. Allessamt! Weil kein unbedingtes Vertrauen in Technik.) vermutlich der größte Bob Dylan-Fan diesseits der Pleiße, der diesen im Rahmen seiner „the Never Ending Tour“ bereits zum zweiten Mal live gesehen hat. Aber, da ich weiß, dass es sich bei dem Freund meiner Schwester, der als Weißer zwar einen stattlich-reizenden Afro trägt, so dass ihn dann und wann schon mal, in lauen Sommernächten, wenn wir unterwegs in der Nähe des Augüstusplatz‘“ waren, weit mehr hautpigmentiertere Einwandererkinder (Ich bekenne, lieber Leser, halt!, LeserInnen ich habe den Überblick verloren – Ist das noch politisch korrekte Sprache? Warum soll man nicht sagen, dass sie „schwarz“ waren, wenn ich doch auch ohne Probleme bekennen kann, „weiß“ zu sein, was, obwohl ich sehr blass bin, doch sehr wenig oder nichts mit dem wirklichen Farbton meines Armes zu tun hat?, der Verf.) als „Afroman“ ausfeiern, was aber in diesem Falle eben auf keine besondere Affinität zu Musik im Allgemeinen oder einem derer Stile im Besonderen verweist, es also bei ihm nicht etwa um einen passionierten Reggae- oder Dub-Hörer handelt. Weshalb ich mich damit begnüge, ihn mit einem, ja, der gute Bob lebe noch, ich hätte ihn bereits gesehen, sogar hier in der Stadt, zwei Mal, in der Arena, aufzuklären.
Was ich da noch nicht weiß ist, dass trotz dieser Übungseinlage, ein paar Tage darauf ein weiteres, gar nicht mal riskantes, sondern nur überhastetes Ausparkmanöver, rückwärts, den Wagen der Nachbarin meiner Eltern verzieren und die Versicherungsprämie für den kleinen Peugeot 207 in die Höhe schnellen lassen wird. Obwohl hier nur ein Kratzer, und da nicht mal eine Delle oder größerer Blechschaden entstehen wird. Wovon die Stadt Leipzig, die uns hier gerade mit ihrem Nachthimmel, der durch das nicht zur Standardausstattung gehörende Glaspanorama des Daches unseres kleinen Gefährts, scheint, beglückt, noch nicht weiß, aber auch wissen könnte, ist, dass trotz der fast schon wieder preisverdächtigen Chuzpe der Stadtoberen, sich mit der „entliehen“ Idee eines „Lichtfests“ gar noch auszeichnen lassen zu wollen, und zwar in der Kategorie „Identitätsbildung in der Stadt“ – und es dabei bei den Awards des europäischen Städtenetzwerkes „Eurocities“ gar ins Finale dieses Wettbewerbs im spanischen Saragossa schaffen wird, ironischerweise wie u. a. auch die mitnominierte französische Stadt Lyon –, die bei der Preisvergabe letztlich dann auch leer ausgehen wird. Schade. Währenddessen, die gerade gehörten Nachrichten deuteten dies bereits an, spitzt sich Unmut und schiere Wut der Bürger andernorts zu. Ein Schlichtungsverfahren muss her, aber das zum Vermittler bestimmte gutmütige, wie gedemütigte Schimpansengesicht, das wegen der aus dem öffentlich-rechtlichen Vorabendprogramm nicht weg zu denkenden, bekannt berüchtigten und ebenda beworbenen Firmen- und Standortpolitik („Deutsche, kauft bei deutschen Affen.“) zuweilen auch als „Naziaffe“ verschriene Maskottchen des Nickiwaren- und T-Shirt-Fabrikanten „Nigesa“ („Nickiwaren Geschwister Ampel“) sagt dankend ab. Weshalb Heinar Geisler (CDU) es nun richten soll: Die Live-Übertragungen des folgenden Schlichtungsverfahrens geraten zu einem unerwarteten Publikumserfolg für das öffentlich-rechtliche Fernsehen, die diesem geradezu einen Überschuss an Gebühren bescheren, als eine Programmumstellung auf eine im Prinzip Dauerschleife aus abwechselnd Telenovelas, Kochshows, in denen Laien unter den Augen von Profis munter vor sich hin dilettieren, und eben diesem neuen Format eben dazu führt, dass die private Konkurrenz mehr und mehr ins Hintertreffen gerät und schließlich in den Ruin getrieben wird. Die letzte Titte zeitigt RTL Television im November 2013 beim „Domina Day“, einer Melange, mit der man versucht, an alte Quotenerfolge wie „Tutti Frutti“ oder „Die Mini Playback Show“ anzuknüpfen, die aber im Konkurrenzdruck zum öffentlich-rechtlichen Qualitätsprogramm untergeht: Neunschwänzige Katzen, mit denen schon betagtere zwar, aber barbusige Dominadamen (die „Tutti-Frutti“-Girls revisited) sich anbiedernde Semiprominenz reihumweise peinigen, bis diese dann doch nicht mehr am Karaokewettbewerb („mit lustig-blutigen Actionspieleinlagen“ nebenher) teilnehmen wollen, können sich eben nicht gegen Lena Müller-Landshut durchsetzen. Diese moderiert zwar gar nicht barbusig, dafür abwechselnd im Duett mit Rangi Yogishwar und einer nunmehr teilausgestopften Heidi, dem schielenden Opossumweibchen aus dem Zoo Leipzig, in der jetzt aber Björn Hagen-Schimpf steckt, eine Kinderkochsendung. In welcher neben kulinarischen Raffinement auch die chemisch-physikalischen sowie Pseudo-Cockney-Kenntnisse der kleinen Racker geschult werden sollen, während die Erwachsenenwelt im Zweiten Deutschen Programm und anderem Highlight dieses Tages in einer aktuellen Stunde um einen Wiederabriss der Waldschlösschenbrücke am Dresdener Elbufer debattiert. Einher mit dieser eher kleinen Medienrevolte sind nämlich weiter reichende Veränderungen im gesamtgesellschaftlichen Konsens gegangen: zur Tatenlosigkeit aufgrund nachfolgender Bürgerproteste immer wieder im Nachhinein, und weiteren öffentlichen Schlichtungsverfahren im Gegenzug und im Widerspruch zu denen ihnen von der Lobby mitgeteilten Regierungsaufträgen verdammt, anerkennen Bundestag wie Bundesrat schlussendlich ihre eigene Nutzlosigkeit an und stimmen ihrer Selbstauflösung zu, was den Weg bereitet, zu der ersten „Mediendirektdemokratischen Republik Deutschland“ (MDRD): der ersten wirklich deutschsprachigen Direktdemokratie, an der dann aber auch jeder beteiligt ist, was heißt, sofern er einen Facebook-Account sein Eigen nennt. Erster Medienkanzler und Gesamtrepubliksmoderator wird der, zum davor regierenden alten Sitzfleisch vergleichsweise fast juvenile Heinar Brämer.
Unterdessen ist auch im Schlichtungsverfahren um „Stuttgart 21“ eine Lösung gefunden, jedoch, die Ereignisse überschlagen sich: Während es durchaus positiv aufgenommen wird, dass der bestehende Kopfbahnhof so auch weiterhin bestehen bleiben soll, stößt der Plan, die nun schon einmal ausgehöhlte Grube darunter, zukünftig als Endlager für den radioaktiven Abfall deutscher Herkunft – also auch für den zwischengelagerten Atommüll aus Gorleben – zu nutzen, auf ein, na, sagen wir, eher geteiltes Echo. Während sich schon wieder erste Proteste unter diesen neuen Vorzeichen vor der Eingangshalle des Bahnhofs formieren, kommt die eiligst zugesagte, sich natürlich grundsolidarisch gebende Unterstützung aus dem Wendland, eine Abgesandtschaft von drei VW-Kleinbussen aus Gorleben und Umgebung, irgendwie, unter noch nicht geklärten Umständen von der Autobahn ab und fehlt folglich bei der Eröffnungskundgebung.
Aber von all dem wissen wir da noch nichts auf dem Vordersitz eines Peugeot 207, unserem von Leipziger Glasdachnacht überdachten, aber auch irgendwie irrwinzigen Auditorium, als – „Play it fucking loud!“ – die letzten Takte von „Like A Rolling Stone“ verklungen sind. Keine Zugabe, nur ein kurzes „Thank you!“, und dann setzt die britische Hymne ein. Gar von „Punk“ schrieben damals einige der englischen Gazetten, und ich sage nur noch von meinem Fahrersitz herüber: „[…] nein, Bob Dylan ist nicht tot. […]“„[…] er hat nur irgendwann aufgehört, Protestsongs für Andere zu singen.“





Literatur/ Quellen und Diskographie:

http://www.youtube.com/watch?v=mTUIsKRFVAE


Burchill, Julie und Tony Parsons: „The Boy Looked at Johnny. Ein Nachruf auf den Rock and Roll“, Wien 1982. [= dt. Übersetzung von „The Boy Looked at Johnny. The Obituary of Rock and Roll“, London 1978.]

Dylan, Bob: explizit oder indirekt zitiert werden: „Hurricane“ (von Bob Dylan und Jacques Levy), „It's Alright, Ma (I'm Only Bleeding)” sowie „Like A Rolling Stone“ in der Live-Aufnahme von „The Bootleg Series Vol. 4 – Bob Dylan Live 1966“. Für die Texte herangezogen wurde die offizielle Songliste unter http://www.bobdylan.com/songs [Stand: 31.03.2011].

Heine, Heinrich: „Atta Troll. Ein Sommernachtstraum“ ist ein Versepos entstanden 1841, u.a. (wieder)veröffentlicht in: Ders., „Werke und Briefe in zehn Bänden“, Band 1, Berlin und Weimar 21972.

Paustowski, Konstantin, „Das Märchen vom Herbst“ (1936), in: Ders., „Das Nachtigallenreich. Kleine Prosa“, Herausgegeben und eingeleitet von Roland Beer, Aus dem Russischen übersetzt von B. Petras, R. Beer und H.T. Heinrich, Weimar o. J. (ca. 1976).

Van Zandt, Townes: Die wiedergebenen Anekdoten finden sich in: „Be Here to Love Me: A Film About Townes Van Zandt”, Dokumentarfilm u.a. mit Willie Nelson, Kris Kristofferson, Kinky Friedman und Emmylou Harris; Regie: Margaret Brown, USA 2005. „For the Sake of the Song“ (erstmals auf dem 1968 gleichnamigen Album), das hier zitiert wird, wird von Azure Ray auf deren „November“ betitelten EP gecovert.

Various Artists: „I Still Miss Someone“ ist im Original von Johnny und Roy Cash und wurde 1958 zuerst auf dem Album „The Fabulous Johnny Cash“ veröffentlicht. „Wenn die Nacht am tiefsten“ (1975) ist das dritte Album von Ton Steine Scherben, ein Doppelalbum. Versteckt haben sich ebenfalls zwei Zitate aus der Original-Leonard-Cohen-Version von „Hallelujah“. Mit dem es ein bisschen wie mit „I Want You“ (siehe oben) oder meinetwegen auch „Oliver‘s Army“ von Elvis Costello verhält, die Leute fühlen sich (emotional) angesprochen durch eine in der Tat, sie mitreißende Melodie; sie achten aber nicht im Geringsten auf den Text, den diese transportiert. Und so hört man es immer und immer auf Beerdigungen, obwohl es einen der anzüglichsten und ganz und gar unchristlichsten Texte hat, die ich kenne.